Interview mit Dr. med. Marlene Thöne Ökobilanz in der Urologie

Frau vor einfarbigen Hintergrund. (Foto: Thöne)
Dr. med. Marlene Thöne, Assistenzärztin in der Urologie an der Uniklinik RWTH Aachen, forscht das zu den Themen Nachhaltigkeit, Ökobilanzierung und Produktlebenszyklus in der Urologie. (Foto: Thöne)

Operationen sind besonders ressourcen­intensiv. Deshalb setzen sich viele chirurgische Fachbereiche bereits mit verschiedenen Maßnahmen auseinander, um den Material­verbrauch und die produzierten Abfall­mengen zu reduzieren. Im Rahmen ihres Forschungs­vorhabens hat sich Dr. med. Marlene Thöne, Assistenz­ärztin in der Urologie an der Uniklinik RWTH Aachen, mit den Themen Nachhaltigkeit, Öko­bilanzierung und Produk­tlebens­zyklus in der Urologie auseinander­gesetzt und dabei festgestellt, dass ihr Fachbereich noch lange nicht auf dem Nachhaltigkeits­level ist, auf dem es sein könnte. Über ihre Forschungs­ergebnisse und Erkenntnisse sprach Dr. Thöne im Interview mit der Redaktion des Abfallmanagers Medizin.

Zur Person: Dr. med. Marlene Thöne

  • seit zwei Jahren Assistenzärztin in der Urologie an der Klinik für Urologie und Kinderurologie an der Uniklinik, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH)
  • 2023 Doktorarbeit zum Thema Comparative Analyses of the Environmental and Health Impact of Reusable and Single-use Flexible Ureterorenoscopes an der Klinik für Urologie am Universitätsklinikum Tübingen
  • 2022/2023 ein Semester des Masterstudiums Abfallwirtschaft und Altlasten an der Technischen Universität Dresden
  • 2015 bis 2022 Studium Humanmedizin an der Eberhard Karls Universität Tübingen

Frau Dr. Thöne, im Rahmen Ihrer Forschung haben Sie sich mit dem Thema Life Cycle Assessment (LCA) in der Urologie beschäftigt. Beschreiben Sie uns doch bitte, was sich dahinter verbirgt und welche Rolle die Ökobilanzierung aktuell in der Praxis spielt?

Marlene Thöne: Bisher wird Life Cycle Assessment (LCA), zu deutsch Lebenszyklusanalyse, also die Ökobilanzierung, vor allem in der Urologie noch stark unterschätzt. Weder in Kliniken noch in Praxen ist das systematische Evaluieren von Treibhausgas­emissionen bisher besonders etabliert. In anderen Fachgebieten oder auch in anderen Ländern ist die Studienlage etwas weniger dünn. Aber auch in Deutschland ist man sich bewusst, dass LCAs ein wirksames Tool sein können, ökologische Nachhaltigkeit „abzuschätzen“ und sogenannte Hotspots zu identifizieren. Hotspots sind Prozesse oder Produkte, die besonders große Auswirkungen auf die Umwelt haben. Generell kann man mit Life Cycle Assessments nicht nur die „direkten“ Auswirkungen auf die Umwelt, beispielsweise anhand von CO2-Äquivalenten abschätzen, sondern auch andere Kategorien. Wasserverbrauch und Ozondepletion etwa haben auch Einfluss auf die menschliche und planetare Gesundheit.

Welche Herausforderungen bestehen bei der Durchführung von LCAs für Prozesse innerhalb von Krankenhäusern?

Marlene Thöne: Die Ergebnisse einer Ökobilanz sind meiner Meinung nach immer mit Vorsicht zu genießen, denn eine LCA basiert größtenteils auf Schätzungen. Eine besondere Herausforderung ist die Datenerhebung, die möglichst genau erfolgen sollte. Intra-institutionelle Prozesse einer Klinik sind häufig sehr komplex und je nach Klinik sind unterschiedliche Abteilungen – beispielsweise der Einkauf, die OP-Leitung, das Pflege­personal und auch das Abfall­management – in diese Prozesse involviert. Hier gilt es, die richtigen Expertinnen und Experten zu ermitteln, Produkte zu untersuchen und Hintergrund­informationen einzuholen. Teilweise sind die verschiedenen Rohdaten auch schwer ab- bzw. einzuschätzen, beispiels­weise wenn es um exakte Angaben zu Material­eigenschaften geht und häufig sind Zuständigkeiten unklar. Für mich war es jedenfalls sehr spannend, mit den diversen Beteiligten zu reden und den Kreisläufen auf den Grund zu gehen.

Lebenszyklus und ökologischer Fußabdruck von Einweg- und Mehrwegprodukten

Inwiefern fließt die Entsorgung medizinischer Produkte in die Berechnung des ökologischen Fußabdrucks ein, und wie genau kann dieser Teil des Lebenszyklus derzeit erfasst werden?

Marlene Thöne: Die Entsorgung ist ein wichtiger Bestandteil einer Lebenszyklus­analyse. Medizinprodukte und sämtliche an einem Eingriff beteiligte Komponenten werden spezifischen Entsorgungs­systemen zugeführt. Hierbei gilt für jedes Material der entsprechende Abfallschlüssel. Nicht einfach zu erfassen ist der Grad des Recyclings. Bisher ist in den Kliniken, die ich kenne, bei der Abfall­trennung definitiv Luft nach oben, auch Recycling­konzepte sind oft nicht ausgereift. Das Entsorgungs­management in Krankenhäusern erlebe ich aber jeweils als bemüht, den Anforderungen und Idealen gerecht zu werden, die mit der Abfall­beseitigung zusammenhängen. Ein Beispiel aus Mexiko zeigt jedoch, dass Recycling­projekte in der Urologie sehr vielversprechend sein können: Hier wurden PVC-Spülbeutel gesammelt und recycelt, womit nicht nur Wasser und CO2, sondern auch viel Geld eingespart werden konnte.

Welche Schritte innerhalb eines Produkt­lebenszyklus verursachen die größten CO₂-Emissionen in der Urologie?

Marlene Thöne: Das kommt ganz auf den untersuchten Prozess an: Generell spielen in der Urologie die üblichen Faktoren wie Bau, Klimatisierung/Heizung etc. eine Rolle, aber gerade auch die Materialien und die Anästhesiologie zählen zu den größten Treibhausgas­emittenten. Meine Doktorarbeit zeigt, dass bei einer Operation zur Entfernung von Nieren- / Harnleitersteinen, je nach Verwendung von Einweg- oder Mehrweg­instrumenten, durch unterschiedliche Lebens­zyklus­stadien mehr oder weniger Treibhaus­gase produziert werden. Für die Einweg-Instrumente besteht der Environmental Impact zu 71 Prozent aus den Auswirkungen der Produktion, die Entsorgung sorgt hier für 24 Prozent der Emissionen. Für Mehrweg-Geräte spielen vor allem die Emissionen der Aufbereitung eine Rolle: Sie machen 76 Prozent aus. Die Produktion der wieder­verwendbaren Instrumente trägt zu 14 Prozent, die Entsorgung zu 7 Prozent zu den Umwelt­auswirkungen der Mehrweg-Geräte bei. Auf den Gebrauch (3 Prozent), Transport und Wartung (je <1 Prozent) entfällt der kleinste Anteil. In dieser Studie ist jedoch die Anästhesie nicht berücksichtigt.

In der Urologie kommen besonders viele Einweg-Uretero­renoskope zum Einsatz. Wie unterscheiden sich hier die Umweltauswirkungen zwischen der Einweg- und Mehrwegvariante?

Ein pauschaler Vergleich, beispielsweise bezüglich der Treibhausgas­emissionen, gestaltet sich schwierig, denn in anderen Ländern wie Australien wird Strom vorrangig mit Kohle produziert, während ich im Rahmen meiner Untersuchung mit einem deutschen Krankenhaus zusammengearbeitet habe, welches ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energie­quellen bezieht. Gerade bei einem hohen Anteil erneuerbarer Energie zeigen sich klare Benefits von Mehrweggeräten. Im Rahmen meiner Forschung beliefen sich die Umwelt­auswirkungen der Mehrweg-Ureterorenoskope auf 1,24 kg CO2eq, während die Einweg-Variante bei 4,57 kg CO2eq lag. Dies hat natürlich auch einen Einfluss auf die Ökobilanz der Kliniken.

Maßnahmen zur Reduktion von Treibhausgas­emissionen

Welche Möglichkeiten sehen Sie für Krankenhäuser, durch gezielte Auswahl und Nutzung von Medizin­produkten ihre Treibhausgas­emissionen signifikant zu reduzieren?

Marlene Thöne: Wenn im Einkauf und Betrieb von Anfang an auf die Abfallhierarchie mit „Vermeidung“ an oberster Stelle gedacht wird, also eine gute Planung und gewissenhafte Nutzung von Medizin­produkten erfolgt, ist sicherlich schon einiges erreicht. Produkte, die eingekauft bzw. genutzt werden, sollten möglichst umweltfreundlich verpackt sein, wenn möglich wieder­verwendbar und gegebenenfalls aus nachhaltigem Material. Auch die sortenreine Abfalltrennung ist wichtig: Gerade in der OP-Vorbereitung und bei kleinen Eingriffen, wo eine Menge „sauberer“ Abfall entsteht, sollte man sich die Zeit nehmen, z. B. Verpackungen in Papier- und Plastikanteil getrennt zu entsorgen. An oberster Stelle stehen aber selbst­verständlich Hygiene und die Sicherheit von Patientinnen und Patienten sowie Mitarbeitenden. Durch das Einbeziehen der Mitarbeitenden in den Denkprozess lässt sich aber durchaus eine signifikante Reduktion der Treibhausgas­emissionen anstreben.

Wie kann das Personal im urologischen Bereich besser für die ökologischen Auswirkungen ihrer täglichen Entscheidungen sensibilisiert werden?

Marlene Thöne: Regelmäßige Schulungen und eine generelle Implementierung ökologischer Themen in die Lehre aller Disziplinen können das gesamte Personal – von der Oberärztin bis zur Reinigungskraft – informieren und eine intrinsische Motivation schaffen, das Wissen anzuwenden und weiterzugeben. Basis sollte ein umfassendes Nachhaltigkeits­programm (inkl. Bau, Einkauf, Lehre etc.) und eine zukunfts­taugliche Organisation sein. Hierbei sollte z. B. auch die Gesundheit der Mitarbeitenden eine Rolle spielen. Angebote wie nachhaltige Mobilität und Ernährung können dann sogenannte „Co-Benefits“ darstellen: Von einer Planetary Health Diet profitiert zum Beispiel nicht nur das Individuum, sondern auch die Umwelt. Wenn das Grundprinzip verstanden ist, nämlich, dass wir alle und auch unsere Folge­generationen von nachhaltigem Handeln profitieren, wird es automatisch in die täglichen Entscheidungen integriert.

Fehlende Leitlinien zur Entsorgung urologischer Instrumente

Gibt es bereits konkrete Handlungsempfehlungen oder Leitlinien zur nachhaltigen Entsorgung von urologischen Instrumenten und wie gut sind diese in der Praxis umsetzbar?

Marlene Thöne: Bisher gibt es keine konkreten Leitlinien, sondern es gelten die Kriterien der Länderarbeits­gemeinschaft Abfall (LAGA) 18 mit besagter Abfallpyramide und die Vorschriften zur Entsorgung von Medikamenten. Um Entsorgungs­abläufe nachhaltig zu optimieren, fehlt es in vielen Kliniken aber an Infrastruktur, etwa an ausreichend Lagerflächen für recyclingfähige Abfälle. Praxen haben hier meiner Erfahrung nach oft einen größeren Spielraum, nachhaltige Entsorgungs­maßnahmen zu realisieren. Zur wirksamen Umsetzung ist jedoch auch jede Einzelne bzw. jeder Einzelne gefragt. Hier ist die Anästhesie schon weiter: In einem Positionspapier von Schuster et al. wird empfohlen, nicht-gefährliche Abfälle in den Recyclingkreislauf zurückzugeben. Solche praktischen Handlungs­empfehlungen wünsche ich mir auch für die Urologie.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

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