Antibiotika, Fiebersäfte, atomoxetinhaltige oder calciumfolinathaltige Arzneimittel – Lieferengpässe vieler wichtiger Arzneimittel sind keine Seltenheit. Das gefährdet die Versorgung von Patientinnen und Patienten und sorgt gleichzeitig für deutliche Preisanstiege. Gerade Letzteres schränkt auch die Forschung und Lehre in ihrer täglichen Arbeit zunehmend ein, denn hier fehlen in vielen Fällen finanzielle Mittel. Abhilfe könnte die Initiative von Prof. Dr. Markus Heinrich, Professor für Pharmazeutische Chemie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, schaffen: Dieser bereitet mit seinem Team Altarzneimittel zu besonders reinen Wirkstoffen auf. Im Interview sprachen wir mit ihm über verschiedene Rückgewinnungsverfahren und deren ökologische sowie ökonomische Vorteile. Aber auch darüber, ob die Aufbereitung von Medikamenten für die Patientenversorgung eine realistische oder eher unrealistische Zukunftsvision ist.
Zur Person: Prof. Dr. Markus Heinrich
- seit 2009 als Professor für Pharmazeutische Chemie an der FAU Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. Heinrich, können Sie unsere Leserinnen und Leser kurz abholen: Wie müssen Altarzneimittel aktuell in Deutschland entsorgt werden?
Aktuell gilt in Deutschland die Empfehlung, Altmedikamente über den Hausmüll, den Sonderabfall (z. B. über spezielle Schadstoffmobile) oder durch die Rückgabe in einer Apotheke zu entsorgen, damit sie zuverlässig vernichtet werden können. Allerdings ist Letzteres keine Pflicht, sondern ein reiner Service der Apotheken. Was dagegen unbedingt vermieden werden sollte, ist eine Entsorgung über das Abwasser, da dies mit erheblichen Umweltschäden verbunden sein kann. Weitergehende Aufbereitungsmöglichkeiten für Altmedikamente gibt es außer unserer Initiative – unseres Wissens – bisher nicht.
Initiative forciert Aufbereitung von Medikamenten
Sie haben ein Forschungsprojekt zum Thema „Rückgewinnung und Verwertung von Arzneistoffen aus Altarzneimitteln“ durchgeführt. Können Sie das Projekt einmal kurz umreißen?
Die Idee zur Rückgewinnung von Wirkstoffen aus Altarzneimitteln entstand im Jahr 2016 als wir für eines unserer Forschungsprojekte einen sehr teuren Wirkstoff benötigten. Für uns war es schlicht günstiger, diesen Wirkstoff aus Tabletten zurückzugewinnen, die wir zuvor für Forschungszwecke in einer Apotheke gekauft hatten. Da die Rückgewinnung des Wirkstoffs und auch dessen Anwendung für unser Projekt gut funktionierten, haben wir beschlossen, die Nutzbarkeit zurückgewonnener Wirkstoffe aus Altarzneimitteln für Forschung und Lehre tiefgehender zu untersuchen. Aus diesem Forschungsprojekt hat sich mittlerweile eine Initiative entwickelt, die sich intensiv mit der Aufbereitung von Wirkstoffen beschäftigt.
Welche spezifischen Verfahren hat Ihre Initiative entwickelt, um Wirkstoffe aus Altarzneimitteln zurückzugewinnen und wie effektiv sind diese?
Ein Rückgewinnungsverfahren hängt immer sehr stark vom Wirkstoff ab, den man zurückgewinnen möchte, und auch beigemischte Hilfsstoffe in den Arzneimitteln haben einen Einfluss auf das Aufbereitungsverfahren. Von den etwa 500 Wirkstoffen, die wir über unsere lokalen, nationalen und seit kurzem auch internationalen Netzwerke bekommen, haben wir bisher etwa 230 bezüglich einer möglichen Rückgewinnung untersucht. Daraus ergibt sich ein umfangreiches Know-how, das dabei hilft, mit bisher nicht bearbeiteten Wirkstoffen schneller Fortschritte zu machen und auch bestehende Verfahren immer wieder zu verbessern. Vielfach erreichen wir in nur ein oder vielleicht zwei Verfahrensschritten schon sehr gute Reinheitsgrade, was – verglichen mit der ursprünglichen Synthese – Prozesse deutlich vereinfacht.
Welches Ziel verfolgt Ihre Initiative und wo kommen die aufbereiteten Wirkstoffe zum Einsatz?
Grundsätzlich verfolgen wir mit unserer Initiative zwei wesentliche Ziele: Wir wollen einerseits möglichst leistungsfähige Rückgewinnungsverfahren für so viele pharmazeutische Wirkstoffe wie möglich entwickeln und andererseits wollen wir mit den zurückgewonnenen Wirkstoffen die Forschung und Lehre fördern und vorantreiben. Nach rechtlichen Vorgaben ist eine Anwendung an Mensch oder Tier aktuell ausgeschlossen. Da die für Forschung und Lehre benötigten Substanzmengen nicht allzu groß sind, konnten wir in den letzten drei Jahre neben unserer Einrichtung auch zahlreiche weitere Universitäten und Forschungseinrichtungen in Deutschland beliefern. Aktuell dehnen wir die Weitergabe auf ganz Europa aus.
Vorteile zurückgewonnener Wirkstoffe aus Arzneimitteln
In welchem Umfang unterstützen zurückgewonnene Wirkstoffe die Forschung und Lehre an Universitäten?
Um neue Wirkstoffkandidaten mit möglichst wenigen Nebenwirkungen zu entwickeln, greift die Forschung in vielen Fällen auf bekannte, bereits auf dem Markt befindliche Wirkstoffe zurück. Die Projekte fordern natürlich unterschiedliche Rohstoffe, die beschafft werden müssen. Und auch im Pharmaziestudium können Studierende im Rahmen ihrer Praktika die zurückgewonnenen Wirkstoffe nutzen, um qualitative und quantitative Analysemethoden sowie die Weiterverarbeitung zu unterschiedlichen Arzneiformen zu erlernen. Das Feedback aus Forschung und Lehre ist dabei sehr gut: Unsere aufbereiteten Wirkstoffe können hier einen wirklichen Beitrag leisten und Institutionen sparen gleichzeitig finanzielle Ressourcen. Sehr positive Resonanz gibt es auch aus dem Bereich des Umweltmonitorings, wo die Wirkstoffe als Referenzverbindungen angewendet werden.
Welche ökologischen und ökonomischen Vorteile ergeben sich aus der Rückgewinnung von Arzneistoffen?
Die Aufbereitung von Wirkstoffen ist in der Regel weniger aufwendig als deren klassische Herstellung über die chemische Synthese. Das spart einerseits den Wirkstoff selbst, aber auch Hilfsstoffe ein, die für die Herstellung bestimmter Präparate benötigt werden. Bei der aktuellen Anwendung als Forschungschemikalien und den damit verbundenen, eher kleineren Mengen im Kilogramm-Bereich, ist dieser Effekt natürlich noch gering. Gelingt in Zusammenarbeit mit der Industrie zukünftig jedoch auch eine Rückführung in die Arzneimittelproduktion, kann die Rückgewinnung einen wertvollen Beitrag leisten, sodass auch mögliche Arzneimittelengpässe besser umschifft werden können. Zusätzlich braucht es auch eine bessere Aufklärung der Bevölkerung hinsichtlich der Möglichkeiten, Medikamente nicht nur gesetzeskonform zu entsorgen, sondern diese auch aufzubereiten. Dafür müssten entsprechende Rücknahmesysteme aufgebaut werden.
Welche Hürden müssen abgebaut werden, damit aufbereitete Wirkstoffe für den Einsatz in humanmedizinischen Medikamenten verwendet werden können?
Für die Arzneimittelproduktion gibt es zwei wesentliche Anforderungen: Neben der unbedingt erforderlichen, sehr hohen Reinheit der zurückgewonnenen Wirkstoffe müssen Prozesse standardisiert und im großen Maßstab umsetzbar sein. Nur so können Aufbereitungsverfahren im industriellen Umfeld durchgeführt werden. Um diesen Ansatzpunkt weiterzuverfolgen, braucht es eine enge Kooperation mit geeigneten Industriepartnern und auch die Abstimmung mit den zuständigen Behörden ist unabdingbar. Und natürlich braucht es auch entsprechende Gesetze, damit aufbereitete Wirkstoffe auch eingesetzt werden dürfen.
Altarzneimittel für das Umweltmonitoring zugänglich machen
Zum Thema Umweltmonitoring: Was verbirgt sich dahinter und was kann Ihr Projekt in diesem Bereich leisten?
Im Rahmen des Umweltmonitorings dokumentieren Forschende ökologische Parameter – wie beispielsweise Veränderungen der Erdvegetation oder die Wasserqualität –, um langfristig umwelt- und naturrelevante Veränderungen in Gewässern, Böden und der Luft zu erfassen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse können bei verschiedenen Umweltschutzprojekten sowie in der Forstwirtschaft und der Landschaftsplanung eingesetzt werden. Eine große Rolle spielt dabei auch die Wirkstoffkonzentration in Gewässern und Böden, denn Arzneimittelstoffe und deren Abbauprodukte gelangen über das Abwasser in die Umwelt. Für viele Forschungsinstitute, Behörden und Umweltämter ist der Zugang zu Wirkstoffen, die für bestimmte Nachweise oder vergleichende Analysen benötigt werden, begrenzt. Hier können wir einen Beitrag zum Umweltmonitoring leisten und den Forschenden einen vergleichsweise einfachen Zugang zu den Chemikalien ermöglichen. Verglichen mit den Anwendungen in der medizinischen sowie pharmazeutischen Forschung und Lehre sind die hier benötigten Substanzmengen deutlich geringer, womit wir dieses Anwendungsgebiet sehr breit und wirkungsvoll unterstützen können.
Zukunft der Rückgewinnung von Medikamenten
Wie sehen Sie die zukünftige Entwicklung der Rückgewinnung und Verwertung von Arzneistoffen, insbesondere im Kontext einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft?
Die Anwendung zurückgewonnener Wirkstoffe für Forschungszwecke, Lehre und Umweltmonitoring ist sicher sinnvoll und kann hier einen wertvollen Beitrag leisten. Die wesentlich anspruchsvollere Rückführung zurückgewonnener Wirkstoffe in die Arzneimittelproduktion, die nur in enger Zusammenarbeit mit Firmen und Behörden möglich werden kann, wird – im Fall von sehr teuren oder aufwendig herzustellenden Wirkstoffen – durch ökonomisches Interesse begründet sein. Interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch auch die Option, geeignete erprobte Rückgewinnungsverfahren für die kurzfristige Überbrückung von Lieferengpässen in Krisensituationen einzusetzen, ohne dass eine Minderung der Qualität der Wirkstoffe sowie der späteren Arzneimittel auftritt.
Wie sieht der Blick in die Zukunft aus? Welche weiteren Projekte sind aktuell in Planung?
In den letzten Jahren konnten wir uns ein breites Netzwerk an Rohstofflieferanten – darunter vor allem Kliniken und andere medizinische Einrichtungen – aufbauen, die uns mit qualitativ sehr hochwertigen Altarzneimitteln versorgen und auch viele der entwickelten Rückgewinnungsverfahren funktionieren schon sehr gut. Unser Fokus liegt deshalb aktuell besonders auf der Weitergabe der Wirkstoffe an deutsche sowie europäische Forschungsinstitute und Universitäten. Parallel arbeiten wir mit den zuständigen Behörden und unseren Industriepartnern daran, die Wirkstoffrückgewinnung zu standardisieren und technische Maßstäbe zu entwickeln.
Vielen Dank für das Gespräch!