Interview mit Prof. Kümmerer, Leuphana Universität Lüneburg Medikamente und Chemikalien im Wasser

Prof. Dr. rer. nat. Klaus Kümmerer, Professor für Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen an der Leuphana Universität Lüneburg (Foto: Leuphana)
Prof. Dr. rer. nat. Klaus Kümmerer, Professor für Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen an der Leuphana Universität Lüneburg (Foto: Leuphana)

Pharmazeutika und Chemikalien können Menschenleben retten und erfolgreich verlängern. Dank des medizinischen und technischen Fortschritts gibt es immer mehr davon. Die Kehrseite der Medaille: Immer mehr Wirkstoffe gelangen damit auch ins Abwasser.

Das bestätigen unzählige Forschungen und Publikationen, die auf mögliche Gefahrenpotenziale bzw. auf die noch unerforschten Langzeitfolgen hinweisen. Die weit verbreitete Annahme, Kläranlagen könnten allen Unrat eliminieren, ist schlichtweg falsch.

Vielfach wird am Ende der Kette angesetzt: Anlagen sollen verbessert, Klärschlämme nicht mehr auf Böden aufgebracht werden. Einer, der zum „Anfang des Rohres“ zurückgeht und seit Jahrzehnten für biologisch abbaubare Stoffe eintritt, ist Prof. Dr. rer. nat. Klaus Kümmerer.

Der Professor für Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen an der Leuphana Universität Lüneburg forscht und lehrt zu nachhaltigen Wirkstoffen und Chemikalien und kennt die Herausforderungen in Krankenhäusern durch seine Professur am Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene des Universitätsklinikums Freiburg.

Die Redaktion des Abfallmanager Medizin hat mit ihm über die aktuellen Belastungen des Wassers durch Medikamente und Chemikalien, ihre Ursachen und Gegenmaßnahmen gesprochen – und dabei auch die Möglichkeiten für Kliniken, Hersteller und Gesetzgeber beleuchtet, die Abwasserbelastung zu verringern.

Zur Person: Prof. Dr. rer. nat. Klaus Kümmerer

  • Chemie-Studium in Würzburg und Tübingen, Fernstudium zur Ökologie und ihren biologischen Grundlagen
  • Wissenschaftler am Öko-Institut in Freiburg sowie Privatdozent und Professor am Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene am Universitätsklinikum Freiburg
  • Seit 2010 Professor für Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen sowie Leiter des Instituts für Nachhaltige Chemie und Umweltchemie an der Leuphana Universität Lüneburg
  • Forscht und lehrt zu nachhaltiger Chemie und Pharmazie, stofflichen Ressourcen, aquatischer Umweltchemie sowie nachhaltigem Zeitmanagement in der Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung
  • Erhielt den internationalen Umweltpreis der Recipharm (2007) und den Wasser-Ressourcenpreis der Rüdiger Kurt Bode-Stiftung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft (2015)
  • Zahlreiche Publikationen und Buchbeiträge, Gründungsherausgeber der wissenschaftlichen Zeitschriften „Sustainable Chemistry and Pharmacy “ und „Current Opinion in Sustainable Chemistry“, Mitherausgeber von „Chemosphere” und “Environmental Pollution“
  • Mitglied internationaler Kommissionen und Gremien, u.a. Kommission Global Chemical Outlook der UNEP, EU Technologieplattform SusChem Europe, DFG-Senatskommission für Wasserforschung, Vorstandsmitglied der Fachgruppe Nachhaltige Chemie in der Gesellschaft deutscher Chemiker
  • Wissenschaftlicher Direktor des International Sustainable Chemistry Collaborative Centre

Sehr geehrter Professor Kümmerer, auf Branchenveranstaltungen für Abfall- und Umweltbeauftragte von Krankenhäusern steht das Thema Abwasser immer hoch im Kurs. Mit der neuen Klärschlammverordnung steht nun konkret eine Verteuerung der Abwassergebühren im Raum. Wie können Krankenhäuser dazu beitragen, vor diesem Hintergrund ihre Abwassermenge zu verringern und ein „saubereres“ Abwasser einzuleiten?

Klaus Kümmerer: In meiner Zeit am Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene am Universitätsklinikum Freiburg sind wir diesen Punkt, der ein Teilaspekt des Themas „Arzneimittel in der Umwelt“ ist, angegangen. Aus meinen Erfahrungen dort kann ich Ihnen sagen: Kliniken können dazu beitragen, indem sie beispielsweise dafür sorgen, das auf den Stationen nicht unnötig viele Arzneimittel gehortet werden. Denn dann verfällt auch weniger. Ein gute Zusammenarbeit mit dem Klinikapotheker ist wichtig. Das heißt: Dieser sollte regelmäßig über die Stationen gehen, damit sich dort nicht zu viel anhäuft, dass dann entsorgt werden muss – und möglicherweise auch falsch entsorgt wird, nämlich über das Abwasser, anstatt über den Müll. Die Krankenhausapotheke hat auch das Fachwissen, um über die Nutzung von Medikamenten auch nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums zu entscheiden. Um den Einsatz und die Ausscheidungen von Antibiotika zu reduzieren, gilt es, Infektionen zu vermeiden. Das fängt beim Händewaschen an.

Krankenhäuser haben einen enormen Wasserverbrauch. Im Schnitt sind es bis zu 500 Liter Wasser pro Bett täglich. Gehören Kliniken damit automatisch auch zu den Haupteinleitern von Rückständen an Arzneimitteln und Chemikalien?

Klaus Kümmerer: Bei nahezu allen Stoffgruppen sind die Kliniken nicht die Haupteinleiter, ganz im Gegenteil: Selbst bei den Antibiotika machen die Kliniken insgesamt weniger als 5 Prozent aus. Es wird oft auch die Frage gestellt, ob man Klinikabwasser zur Elimination von Arzneimittelrückständen und Antibiotikaresistenzen separat behandeln sollte. Aber was macht es für einen Sinn, einen riesigen Aufwand zu betreiben, um 5 Prozent des Wassers zu behandeln? Danach geht es ohnehin in das kommunale Abwasser, wo alles behandelt wird – mit dem gleichen, unvollständigen Erfolg. Da stellt sich die Frage, ob die finanziellen Mittel nicht besser woanders aufgehoben sind.

Medikamentenrückstände im Abwasser reduzieren

Was können Krankenhäuser dann tun, um die Rückstände an Medikamenten im Wasser zu verringern?

Klaus Kümmerer: Es ist immer sinnvoll, die eigene Verschreibungspraxis zu reflektieren. Gerade bei älteren Menschen mit Mehrfachmedikation sollte man genau schauen und fragen: Was brauchen diese Patientinnen und Patienten wirklich? Das ist nicht nur im Interesse der Umwelt, sondern vor allem im Interesse der Patientinnen und Patienteen, um unerwünschte Kombinationswirkungen zu vermeiden. Auch prophylaktisch verabreichte Antibiotika sollten hinterfragt werden. Mein Tipp an die Mediziner lautet: Ziehen Sie Ihre Krankenhausapothekerin oder Ihren Krankenhausapotheker sowie Infektiologin oder Infektiologen beratend hinzu.

Weiterhin müssen die Themen Arzneimittel in der Umwelt, Abfall und die Folgen der Medizin im Allgemeinen Bestandteil der medizinischen Ausbildungsberufe werden. Es geht nicht darum, dass man die Dinge verbietet, aber wir wissen – und das haben unsere damaligen Forschungen in Freiburg zu Abfällen aus klinischen Einrichtungen bestätigt –, es gibt ein Reduktionspotenzial und zwar kein geringes, auch ein finanzielles.

Medikamentenforschung als Startpunkt für sauberes Wasser

Ihr Credo lautet: Statt unerwünschte Substanzen aus dem Wasser zu fischen, sollten sie gar nicht erst entstehen. Mit Ihrem Team entwickeln Sie nachhaltige Wirkstoffe, die in Kläranlagen vollständig abbaubar sind. Erste Erfolge gibt es bei Wirkstoffen gegen Krebs. Was wurde genau gemacht?

Klaus Kümmerer: Das Krebsforschungszentrum in Heidelberg hat vor einigen Jahren ein neues Wirkprinzip ermittelt und dabei sollten auch Umweltaspekte eine Rolle spielen. Dieses gemeinsame Forschungsprojekt war gefördert von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt. Ziel war es, die Wirkung des Medikaments zu verbessern. Dafür wurden Strukturen variiert. Wir haben diesen Prozess begleitet und aus den besser wirkenden Strukturen die empfohlen, die in der Umwelt biologisch abbaubar sind. Der aus diesem Projekt hervorgegangene Wirkstoff wurde patentiert.

Wer treibt die Entwicklung solcher Wirkstoffe an und wer behindert sie?

Klaus Kümmerer: Die Arzneimittelindustrie will noch nicht daran glauben. Leider ist es auch so, dass viele Wirkstoffe einfach aus finanziellen Gründen nicht weiterentwickelt werden. Wie viele Wirkstoffe sterben innerhalb eines Unternehmens, nicht nur, weil sie vielleicht nicht die Eigenschaften haben, die man gern hätte, sondern weil sie für die Unternehmen kurzfristig gedacht nicht rentabel sind.

Natürlich gibt es einzelne Unternehmen, die sich das auf die Fahne geschrieben haben, in diesem Bereich mehr zu tun. Aber es gibt nach wie vor viele, die sagen, das geht nicht. Unsere Forschungen haben aber klar gezeigt, dass es möglich ist. Wir konnten das z. B. bei einem Betablocker zeigen. Auch für Antibiotika haben wir zwei Patente angemeldet. Das sind noch keine Arzneimittel, weil die klinische Prüfung fehlt. Aber die Stoffe wirken nach allem, was wir testen können.

Anstatt nach neuen Rezepturen und Strukturen zu suchen, sollte die pharmazeutische Industrie auch noch einmal zu ihren alten Wirkstoffen zurückgehen und die Seitenketten verbessern. Und das ist nichts anderes als Benign by design (Anmerkung der Redaktion: ein von Prof. Kümmerer entwickeltes Konzept zur Reduzierung von Umweltbelastungen durch gezieltes Moleküldesign). Wenn der Umweltaspekt bei der Wirkstoffentwicklung berücksichtigt wird, kann man von „Grün“ sprechen.

Leistungsfähigkeit deutscher Kläranlagen

Wie bewerten Sie die Leistungsfähigkeit der deutschen Kläranlagen und die Entwicklung von Rückständen an Arzneimitteln und Chemikalien im Abwasser?

Klaus Kümmerer: Konventionelle Abwasserreinigung ist wichtig und notwendig. Die Entwicklung der konventionellen Abwasserreinigung gehört zu den entscheidenden Fortschritten unserer Gesellschaft. Das Problem ist allerdings, dass man nun linear weiterdenkt und sagt: Wenn wir jetzt an unsere Grenzen gelangen, kommt die erweiterte Abwasserreinigung. Da gibt es zwar viele Verfahren, aber keines der Verfahren holt die Mehrheit der Stoffe aus dem Wasser.

Wir haben heute zwar nicht mehr wie vor 30 Jahren die hohen Konzentrationen von wenigen Stoffen im Wasser – da hat der technische Umweltschutz einen riesigen Beitrag geleistet –, aber wir haben eine Vielzahl an Produkten, die das Wasser belasten. Das sind heute die Hauptemissionen. Denkt man beispielsweise an Nachtwäsche oder Computer, die Flammschutzmittel enthalten. Die gelangen nicht nur beim Waschgang, sondern auch über Ausdunstungen und Ablagerungen im Hausstaub ins Abwasser.

Zusammenfassend gilt, wir haben immer mehr Wirkstoffe, immer mehr Chemikalien und die finden wir auch entsprechend im Abwasser. Für mich war das einer der Gründe, nach nachhaltigen Lösungen zu suchen. Wir müssen uns die Frage stellen: Wie wollen wir langfristig mit unseren Wasserressourcen umgehen? Wollen wir akzeptieren, dass sie verunreinigt sind?

Gibt es Grenzwerte für Arzneimittel im Wasser?

Klaus Kümmerer: Es gibt für Arzneimittel keine Grenzwerte. Mir ist keiner bekannt in Deutschland oder der EU.

Wie ist es mit dem Wissen der Kläranlagenbetreiber um die beschriebenen Rückstände bestellt?

Klaus Kümmerer: Sie sind sich dessen bewusst, dafür gab es genug Forschung und Publikationen zum Thema. Manche messen hin und wieder. Manche öfter. Manche messen nicht, weil sie sagen: Das macht nur Probleme. Das war im Trinkwasserbereich anfangs auch so. Aber das hat sich zumindest ein bisschen geändert. In der europäischen Wasserrahmenrichtlinie stehen ein paar Arzneimittel auf einer sogenannten Watchlist, so dass einige gemessen werden. Hier müsste jetzt die Politik aktiv werden, ein weitreichenderes Monitoring und lang- oder mittelfristige Lösungen unterstützen. Es ist nicht so, dass wir bis morgen gleich alles gelöst haben müssen. Es sind auch nicht alle Rückstände toxisch. Aber wir wissen eben nicht, was die chronisch bedeuten. Es gibt immer mehr Stoffe, mit denen wir in chronischen Konzentrationen belastet sind. Die Folge sind immer mehr subtile Effekte wie Verhaltensänderungen. Zum Thema Antibiotika hat eine schwedische Forschergruppe in mehreren Arbeiten gezeigt, dass auch unter geringen Konzentrationen, wie wir sie in der Umwelt haben, eine Selektion von resistenten Keimen stattfindet.

Klärschlammverordnung bekämpft nur Symptome, nicht die Ursachen

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den beschriebenen Rückständen und dem novellierten Dünge- und Klärschlammrecht? Die neue Klärschlammverordnung verbietet die bodenbezogene Klärschlammverwertung bei größeren Kläranlagen.

Klaus Kümmerer: Klar ist, je mehr Schadstoffe wir im Klärschlamm haben, desto weniger können wir Klärschlamm als Dünger verwenden. Wenn nicht nur Arzneimittel, sondern generell alle synthetischen organischen Stoffe biologisch abbaubar wären, dann könnten wir den Klärschlamm auch wieder viel besser als Dünger verwenden. Dann brauchen wir auch kein aufwendiges Phosphorrecycling.

Kläranlagen sind nicht dafür da, allen Unrat dieser Welt aus dem Abwasser rauszuholen. Das können sie nicht leisten. Es ist richtig, dass man mit den jetzigen Regelungen die Qualität der Böden sicherstellt. Aber langfristig ist das aus meiner Sicht keine gute Strategie. Wir müssen vielmehr zusehen, dass wir den Klärschlamm von den Schadstoffen entfrachten und nicht einfach aufgeben. Wir müssen wieder zurück an die Quelle. Das heißt: Was wir erst gar nicht in das Wasser einbringen, müssen wir hinterher nicht behandeln oder herausholen und können den Klärschlamm aus allen Anlagen als Dünger verwenden.

Also setzt die Klärschlammverordnung an den Symptomen und nicht an der Ursache an?

Klaus Kümmerer: So ist es. Und deshalb sage ich: Wir müssen an den „Anfang des Rohres“ zurück. Alle Akteure, gerade auch Chemiker, müssen zuallererst die Frage stellen, ob nichtchemische Alternativen für eine gewünschte Funktion möglich und vielleicht nachhaltiger sind. Erst wenn eine chemische Lösung unvermeidlich ist, stellt sich die Frage, welches Produkt die gewünschte Funktion unter Einbeziehung aller Nachhaltigkeitsaspekte bereitstellen kann.

Weiterhin ist Reduktion als Zielvorgabe für chemische Produkte ein Garant für zukunftsfähige Ressourcennutzung, Technologien, Produkte und eine gesicherte Zukunft. In puncto Verhaltensalternativen konnten wir beispielsweise in einem Forschungsprojekt zur „Verringerung von unerwünschten Effekten beim Einsatz von Desinfektionsmitteln im Krankenhaus durch Chemical Leasing“ zeigen: Durch fachkundige Beratung kann der Einsatz von Desinfektionsreinigern und Flächendesinfektionsmitteln reduziert und der Hygienestatus verbessert werden. Trotz der gleichzeitigen Verbrauchssteigerungen von Hände- und Instrumentendesinfektionsmitteln lässt sich eine verbesserte Umweltleistung erreichen. Neben Einsparpotenzialen beim Abfallmanagement können durch den verbesserten Infektionsschutz so auch nosokomiale Infektionen vermieden und Behandlungskosten eingespart werden.

Abwasserverbesserung im Abfallmanagement

Wie können Abfallbeauftragte vorgehen, um die Themen Abwasserverringerung, Abwasserverbesserung und den Einkauf nachhaltiger Wirkstoffe im Krankenhaus voranzubringen?

Klaus Kümmerer: Das ist in dem medizinischen Bereich sehr schwierig, weil das Verständnis für diese Themen häufig fehlt. Der Abfallbeauftragte muss letztendlich die Klinikleitung überzeugen – und dabei wird schnell die Kostenfrage im Raum stehen. Aber das eben genannte Beispiel der Desinfektionsmittel zeigt, was möglich ist – wie auch eine gezieltere Antibiotika-Therapie: Beide Ansätze sparen Geld und entlasten zugleich die Umwelt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Quellen

Prof. Dr. rer. nat. Klaus Kümmerer, Professor für Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen an der Leuphana Universität Lüneburg (Foto: Leuphana)
Prof. Dr. rer. nat. Klaus Kümmerer, Professor für Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen an der Leuphana Universität Lüneburg (Foto: Leuphana)