Blick ins Ausland Ukraine Medizinisches Abfall­management im Kriegs­gebiet

Pilotprojekt zur nachhaltigen Entsorgung medizinischer Abfälle in der Ukraine: Dr. Tetiana Lisovska der Projektgruppe MEDWASTE Ukraine im Interview (Foto: privat)
Pilotprojekt zur nachhaltigen Entsorgung medizinischer Abfälle in der Ukraine: Dr. Tetiana Lisovska der Projektgruppe MEDWASTE Ukraine im Interview (Foto: privat)

Der Konflikt in der Ukraine stellt nicht nur die medizinische Versorgung, sondern auch die damit zusammenhängenden Logistik- und Managementstrukturen vor große Herausforderungen. Die Projektgruppe Medical Waste in der Ukraine (MEDWASTE-Projekt Ukraine) rund um Dr. Tetiana Lisovska und Derya Taser sowie den Projektverantwortlichen Prof. Dr. Walter Leal will zusammen mit Vertretern vor Ort Lösungen für diese Probleme erarbeiten, um langfristig ein modernes und nachhaltiges Abfallmanagement in der Ukraine zu etablieren. Im Interview gibt uns Dr. Tetiana Lisovska spannende Einblicke in den Projektablauf und zeigt Missstände beim medizinischen Abfallmanagement in der Ukraine – auch unabhängig von der aktuellen Krisensituation – auf.

Zur Person: Dr. Tetiana Lisovska

  • 1999-2004: Studium im Bereich Ingenieurwissenschaften mit Schwerpunkt Lebensmittelindustrie – Ternopil Ivan Puluj National Technical University, Ukraine
  • 2011-2015: Doktorarbeit im Bereich Ingenieurwissenschaften mit Schwerpunkt Lebensmittelindustrie – Kharkiv University of Food Technology and Trade
  • seit 2022 Projektmanagerin am Forschungs- und Transferzentrum Nachhaltigkeit und Klimafolgenmanagement (FTZ NK) im Bereich Umwelt und Kreislaufwirtschaft in Hamburg

Der Krieg in der Ukraine hat einen großen Teil der Infrastruktur des Landes zerstört. In den Krankenhäusern ist dabei nicht nur die Patientenversorgung betroffen, sondern auch das reibungslose und sichere Abfallmanagement. Können Sie uns die aktuelle Situation schildern?

Der Krieg hat in der Tat einen Großteil der Infrastruktur zerstört: Von den 2.200 Krankenhäusern mit insgesamt mehr als 400.000 Betten sind nach Schätzungen des ukrainischen Gesundheitsministeriums 746 Einrichtungen beschädigt und 123 vollständig zerstört worden. Neben diesen Einschränkungen der Versorgung entwickeln sich auch das Abfallmanagement und die Abfallmengen zu immer größer werdenden Problemen. 2019 gab es laut dem Leiter der Abteilung für Abfallkontrolle der staatlichen Umweltinspektion der Ukraine knapp 98.000 Tonnen medizinischer Abfälle, die aktuellen Zahlen werden auf das Zehnfache geschätzt. Diese Mengen machen es für Krankenhäuser fast unmöglich, ihr Abfallmanagement überhaupt noch bewältigen zu können.

Gerade in der Region, in welcher wir unser MEDWASTE-Projekt durchführen, herrscht aktuell eine besonders prekäre Versorgungslage. Auch wenn die im Westen liegende Stadt Iwano-Frankiwsk bisher weniger von direkten Kampfhandlungen betroffen war, steht deren Gesundheitssystem aufgrund der hohen Zahl an Binnenflüchtlingen – die teilweise bereits 2014 in die Region fliehen mussten – und einer steigenden Zahl an zu versorgenden Patienten mit kriegsbedingten Verletzungen unter großem Druck. Zusätzlich beeinflusst auch die COVID-19-Pandemie, die sich beim Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine im Februar 2022 auf einem erneuten Höhepunkt befand, die Versorgungslage noch heute. Problematisch ist zudem, dass die logistische Versorgung beeinträchtigt ist, womit sich einerseits der Abtransport der Abfälle und andererseits die Lieferung von behandlungsnotwendigen Materialien und Medikamenten verzögert.

Welche Probleme ergeben sich aus der eingeschränkten Entsorgung von medizinischen Abfällen?

Werden Abfälle nicht entsprechend entsorgt, stellen diese eine Quelle für eine direkte oder indirekte Umweltverschmutzung und zusätzlich ein Sicherheitsrisiko für die Bevölkerung dar. Problematisch wird es vor allem dann, wenn es sich um gefährliche Abfälle handelt. Diese haben eine 1000-mal höhere Infektionsrate als einfache Siedlungsabfälle, da sie unter anderem mit Krankheitserregern und Viren kontaminiert sind und somit eine ernste epidemiologische und ökologische Gefahr darstellen.

Verschärft wird die Situation durch die zunehmende Menge an medizinischen Abfällen aufgrund aktiver Militäroperationen, da diese einerseits die Logistik einschränken und andererseits die Zahl der Patienten und damit auch die der medizinischen Abfälle in die Höhe treiben. Die Entsorgung medizinischer Abfälle ist in der Ukraine aber auch unabhängig von Pandemie oder Krieg ein großes Problem: Nur 1 Prozent der jährlich anfallenden Abfälle wird thermisch verwertet, womit der größte Teil der Abfälle auf etwa 6.000 legalen und 33.000 illegalen Deponien im ganzen Land vergraben wird. Das hat erheblichen Einfluss auf die Umwelt sowie Wasserqualität und damit schlussendlich auch auf die Bevölkerung.

Pilotprojekt MEDICAL WASTE in der Ukraine

Das Pilotprojekt MEDICAL WASTE in der Ukraine befasst sich mit der Art und Menge der medizinischen Abfälle. Wie können wir uns die Durchführung dieser Studie vorstellen?

Das Hauptziel dieses Projekts, welches von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) gefördert wird, besteht darin, die Art und Menge der medizinischen Abfälle in den Krankenhäusern in Iwano-Frankiwsk (ca. 230.000 Einwohner) zu analysieren und auf Basis dieser Daten – auch im Erfahrungsaustausch mit anderen europäischen Partnern – eine Strategie für die ordnungsgemäße Abfallbehandlung, den Transport und die Entsorgung sowie das Recycling von medizinischen Abfällen vorzuschlagen. Dafür arbeiten wir als Projektinitiatoren des Forschungs- und Transferzentrum Nachhaltigkeit und Klimafolgenmanagement (FTZ NK) in Hamburg mit Vertretern und Vertreterinnen aus der Ukraine eng zusammen.

In der ersten Phase der Studie haben wir mit der Erhebung und Untersuchung der Abfallmengen begonnen. Im Rahmen der zweiten Phase wurden Hindernisse identifiziert, welche die sichere Entsorgung der Abfälle einschränkten. Darauf folgte die Identifizierung von Gesundheits- und Sicherheitsrisiken im Zusammenhang mit der unsachgemäßen Entsorgung der Abfälle in der dritten Phase. Auf Basis dieser erhobenen Daten sollen dann in der vierten Phase der Studie konkrete Lösungsmaßnahmen erarbeitet werden, mit welchen die nachhaltige Entsorgung der medizinischen Abfälle umgesetzt werden kann.

Auch wenn wir uns aktuell in der dritten Phase des Projektes befinden und damit noch lange nicht am Ende sind, können wir schon erste Zwischenergebnisse vorweisen. Dazu gehören unter anderem die Umfrageergebnisse sowohl aus Iwano-Frankiwsk als auch anderen europäischen Ländern, Diagramme zur aktuellen Forschungssituation im Bereich der medizinischen Entsorgung sowie eine Analyse wissenschaftlicher Publikationen, die sich mit einem nachhaltigen medizinischen Abfallmanagement zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele der UN befassen.

Sie haben über die Entwicklung von Lösungsmaßnahmen gesprochen. Aber was braucht es für solche Maßnahmen?

Die Lösungsfindung für ein nachhaltiges Abfallmanagement ist ein interdisziplinäres Thema, das verschiedene Aspekte der nachhaltigen Entwicklung berührt. Bei der Bewertung der Auswirkungen von medizinischen Abfällen sollten deshalb alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft – sowie die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN berücksichtigt werden. Als Gesundheitsversorger tragen wir aktiv dazu bei, jedes Jahr Millionen von Todesfällen zu verhindern, müssen aber gleichzeitig auch dafür sorgen, dass zuverlässige Mechanismen entwickelt werden, mit denen die Umwelt geschützt und Wasser, Böden und Luft nicht kontaminiert werden. Zusätzlich sollten die Grundsätze der Wiederverwendung und Minimierung des Abfallaufkommens Grundlage einer soliden Strategie für die Bewirtschaftung medizinischer Abfälle sein.

Kriegssituation erschwert Etablierung medizinischen Abfallmanagements

Ihre bisherigen Antworten zeigen, dass sich die Etablierung eines funktionierenden Entsorgungssystems in einigen Bereichen schwierig gestaltet. Konnten Sie bereits erste Veränderungen feststellen?

Auch wenn wir noch lange nicht am Ende unserer Reise sind, konnten wir bereits erste Zwischenerfolge unseres Projektes feiern. So wurden in Iwano-Frankiwsk klare Leitlinien für die Entsorgung und das Recycling von medizinischen Abfällen entwickelt. Trotz dieser Bemühungen müssen wir aber auch feststellen, dass es vonseiten der Medizinproduktehersteller keine klaren Entsorgungsanweisungen gibt.

Es hat beispielsweise nur eine Klinik in der Region eine Vereinbarung mit einem solchen Hersteller bezüglich der finanziellenund organisatorischen Verantwortung für die Entsorgungsphase der Produkte getroffen. Die Umfrageergebnisse dokumentierten zwar in einigen Bereichen Einigkeit – beispielsweise bei der Sortierung der Abfälle gemäß Sicherheitskategorien – zeigen aber auch auf, dass beispielsweise in der Sterilisation der Materialien noch Standards fehlen, um eine wirklich nachhaltige Versorgung umzusetzen.

Besuch der MEDICAL WASTE-Projektgruppe in Deutschland

Im Mai besuchten Kolleginnen aus der Ukraine die Projektgruppe in Hamburg für einen Workshop. Wie ist dieser Workshop verlaufen?

Im Mittelpunkt dieses Besuches stand der Austausch und das Kennenlernen der Ansätze und Methoden des Abfallmanagements in deutschen Krankenhäusern. Dabei sollte erörtert werden, wie diese in der Ukraine mit lokalen Ressourcen und Fähigkeiten umgesetzt werden können. Im Fokus standen zusätzlich auch die Erfordernisse und Herausforderungen bei der Umsetzung eines funktionierenden Abfallmanagements. Um den Kolleginnen einen Einblick in das deutsche Abfallmanagement zu ermöglichen, haben wir das Universitätsklinikum Hamburg UKE sowie das Asklepios Klinikum Harburg besucht.

Im Rahmen dieser Besuche stellten die ukrainischen Vertreterinnen viele Fragen zur nachhaltigen Entsorgung, aber auch zur Reduzierung oder Vermeidung des Abfallaufkommens. Zusätzlich haben wir auch einen Entsorgungs-Vertreter zu unserem Workshop eingeladen, welcher den Teilnehmerinnen alle Fragen rund um die Entsorgungsabläufe, über die europäische Gesetzgebung und die Umsetzung der medizinischen Abfallströme in Gesundheitseinrichtungen beantworteten konnte.

Maßnahmen für ein nachhaltiges medizinisches Abfallmanagement

Welche Maßnahmen werden derzeit oder in naher Zukunft ergriffen, um diese Versorgung auf nachhaltige Weise wiederherzustellen?

Die Ukraine kann aus dem Abfallmanagement anderer europäischer Länder lernen, problematisch sind dabei allerdings die fehlenden finanziellen Mittel, die für die Umsetzung vieler Maßnahmen notwendig wären. Aber gerade der Austausch mit europäischen Kollegen innerhalb des Projektes sowie das Kennenlernen der deutschen Managementstrukturen hat für viele neue Ideen gesorgt, mit denen das Abfallmanagement in Iwano-Frankiwsk mit minimalem Kapitaleinsatz optimiert werden kann.

Nach dem Besuch in Deutschland haben verschiedene medizinische Einrichtungen bereits mit der Umsetzung erster Maßnahmen begonnen, so werden die Leitlinien des Europäischen Abfallkatalogs bereits aktiv umgesetzt, das Personal wird entsprechend geschult, es wurde ein System zur Abfalltrennung eingeführt, gesonderte Abfallmanager ernannt und speziell ausgewiesene Räume zur Abfalllagerung geschaffen.

Neben diesen ersten Erfolgen warteten aber auch Herausforderungen auf alle Projektbeteiligten, denn vor dem Start erster Maßnahmen brauchten sie die Unterstützung regionaler Behörden. Während einer Zusammenkunft zwischen allen Beteiligten wurde die Notwendigkeit des zu optimierenden Abfallmanagements begründet und die Direktionen der städtischen und regionalen Gesundheitsämter haben auf Basis dieser Informationen eine Resolution verabschiedet, die die Umsetzung von Änderungen in den Krankenhäusern der Stadt fördert und die Behörden im ganzen Land auf die Problematik fehlender Strukturen und finanzieller Mittel aufmerksam machen soll.

Vielen Dank für das Gespräch!

Pilotprojekt zur nachhaltigen Entsorgung medizinischer Abfälle in der Ukraine: Dr. Tetiana Lisovska der Projektgruppe MEDWASTE Ukraine im Interview (Foto: privat)
Pilotprojekt zur nachhaltigen Entsorgung medizinischer Abfälle in der Ukraine: Dr. Tetiana Lisovska der Projektgruppe MEDWASTE Ukraine im Interview (Foto: privat)