Ökodesign von Medizinprodukten Recyclingfähigkeit von Anfang an mitdenken

Medizinprodukte oder Bauteile wie medizinische Displays, Lichtquellen in Medizinprodukten etc. sind bisher von bestehender Ökodesign-Richtlinie ausgenommen. (Foto: Goodboy Picture Company, iStock)
Medizinprodukte oder Bauteile wie medizinische Displays, Lichtquellen in Medizinprodukten etc. sind bisher von bestehender Ökodesign-Richtlinie ausgenommen. (Foto: Goodboy Picture Company, iStock)

In Sachen Klimafreundlichkeit und Nachhaltigkeit hinken die Medizinprodukte-Hersteller anderen Branchen hinterher. Das liegt unter anderem an den Rechtsvorgaben, die der Patientensicherheit den allerhöchsten Stellenwert einräumen. Veränderungen an der Materialauswahl können sich unmittelbar auf die Gesundheit der Patientinnen und Patienten auswirken. Zudem machen sie bei bereits bestehenden Produkten eine Rezertifizierung erforderlich, die für die Hersteller mit einem immensen zeitlichen und finanziellen Aufwand einhergeht. Hersteller werden sich also sehr genau überlegen, ob sie sich das leisten können. Im Zuge der europäischen Klimaschutzgesetzgebung werden sie allerdings nicht umhinkommen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Wäre das Gesundheitswesen ein Land, wäre es nach China, den USA, Indien und Russland der fünftgrößte Emittent von Treibhausgasen. Das hat die Nichtregierungsorganisation „Health Care Without Harm“ ermittelt. 4,4 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen gehen auf das Konto des Gesundheitssektors – mehr als bei der Schifffahrt oder im Flugverkehr. Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Pharmakonzerne, Hersteller von Medizinprodukten und andere Einrichtungen des Gesundheitswesens sind damit wesentliche Treiber der Klimakrise.

Im Zuge des Europäischen Klimaschutzgesetzes und des Green Deal der Europäischen Union (EU) kommen nun gewaltige Änderungen auf den Gesundheitssektor zu. Europa soll bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent werden. Auf dem Weg dorthin sollen die Mitgliedstaaten der EU ihren Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 mindern. Das geht nur, wenn alle Branchen ihren CO2-Fußabdruck massiv verringern – inklusive der Medizintechnikbranche, deren Nachholbedarf besonders groß ist.

Der Aktionsplan der EU enthält unter anderem den Entwurf für eine Ökodesign-Verordnung, die die bisherige einschlägige Ökodesign-Richtlinie ablösen soll. Die Richtlinie bezieht sich auf Geräte, die für den Energieverbrauch besonders relevant sind – etwa Fernseher, Kühlschränke und Waschmaschinen. Sie legt fest, wie diese Produkte gestaltet werden müssen: Energie- und materialeffizient sollen sie sein, es muss Ersatzteile für sie geben und die Hersteller müssen darüber aufklären, wie sie repariert und gewartet werden können. Zahlreiche Medizinprodukte oder Bauteile wie medizinische Displays, externe Stromversorgungsgeräte oder Lichtquellen in Medizinprodukten sind bislang von ihr ausgenommen. Die Ökodesign-Verordnung sieht nun einen digitalen Produktpass vor, der mit Daten über den gesamten Produkt-Lebenszyklus befüllt werden soll.

Außerdem sollen die Ökodesign-Vorgaben auf nahezu alle Produkte ausgeweitet werden. Ziel der EU ist der Wandel von linearen Geschäftsprozessen, an deren Ende sich hohe Abfallberge auftürmen, hin zu einer Kreislaufwirtschaft, in der Ressourcen nicht länger verschwendet, sondern die verwendeten Materialien einen geschlossenen Stoffstrom nicht verlassen.

Sicherheit in der medizinische Entsorgung schlägt Nachhaltigkeit

In der Medizin betrifft das eine riesige Palette von Produkten, die von Pflastern, Einmalhandschuhen, Kanülen und Skalpellen über Herzschrittmacher und Kunstgelenke bis hin zu OP-Robotern, Dialyse- und CT-Geräten reicht. Mit Verweis auf die hohen Anforderungen, die Medizinprodukte im Hinblick auf Funktionalität, Sicherheit und Keimfreiheit erfüllen müssen, haben sich die Hersteller bei Forderungen nach ökologisch abbaubaren oder zumindest recyclingfähigen Materialien bislang immer weggeduckt, heißt es im Trendreport der Medizintechnikmesse Medtec Live with T4M vom vergangenen Jahr.

Und obwohl bei den Anwendern – in Arztpraxen, Krankenhäusern, Reha-Einrichtungen und Laboren – ein steigendes Umweltbewusstsein zu beobachten ist, stehen auch ihnen regulierende Vorgaben im Weg: Der Schutz von Menschen vor infektiösem Material und scharfen Gegenständen hat Vorrang vor allem anderen. Deshalb werden bislang die wenigsten Medizinprodukte stofflich recycelt.

Bei der thermischen Verwertung gewinnt die Gesellschaft zwar Energie, aber es gehen wertvolle Rohstoffe verloren. Dennoch gibt es Bereiche, in denen Nachhaltigkeitsaspekte zunehmend an Bedeutung gewinnen, etwa bei den Einwegprodukten. Neuartige Entwicklungen, wie Bioplastik aus Maisstärke, Zuckerrohr oder anderen nachwachsenden Rohstoffen, könnten die Abfallberge in der Medizintechnik schrumpfen lassen.

Das Darmstädter Start-up Biovox beispielsweise bietet Biokunststoffe für die Medizin- und Labortechnik auf der Basis von Zuckerrohr und der daraus gewonnenen Milchsäure an, sogenannte Polylactide (PLA), die biologisch abbaubar und industriell kompostierbar sind: „Unsere Kunststoffe zeichnen sich durch einen niedrigen CO2-Fußabdruck, medizinische Sicherheit und Reinheit aus und können sehr breit eingesetzt werden: für Verpackungen, in Endoskopen, aber auch für Einwegprodukte wie Spritzen und Blutbeutel“, sagt Dr. Julian Lotz, einer der drei Gründer von Biovox.

Sie seien außerdem mit relativ wenig Aufwand zu recyceln: In dem sie katalytisch aufgespalten werden, entsteht reinstes Lactid, aus dem erneut Kunststoff hergestellt werden kann. Zwar müssten sie dafür aus dem Müll ausgesondert werden – „aber im Gesamtabfallstrom fällt mittlerweile relativ viel Biokunststoff an, das fängt gerade an, sich zu lohnen“, sagt Lotz.

Das Unternehmen begleitet Hersteller, die auf Biokunststoff als Ausgangsmaterial für ihre Produkte umsteigen wollen. Zumindest für Verpackungen und neue Produktentwicklungen sind Biokunststoffe schon heute eine echte Alternative. Änderungen an einem bestehenden Medizinprodukt gehen allerdings unweigerlich mit einer Neuzulassung einher – ein zeitaufwändiger und kostspieliger Prozess. Ohne Druck seitens der Endverbraucher hätten Hersteller keinen Grund für einen Materialwechsel, heißt es im Trendreport. Die Nachfrage sei noch zu gering.

Nachhaltigkeitsberichte werden Pflicht für Kliniken

Doch das Mindset ändert sich gerade. Am Klimaschutz-Projekt KLIK green haben 250 Krankenhäuser und Reha-Einrichtungen teilgenommen. Ihr Ziel: im Rahmen der Projektlaufzeit von 2019 bis 2022 mindestens 100.000 Tonnen CO2 weniger in die Luft freizulassen. Unter anderem haben die Einrichtungen Klimamanagerinnen und Klimamanager qualifiziert. Es ist anzunehmen, dass diese auch nach Projektabschluss weiter nach Einsparpotenzialen suchen. Sogar suchen müssen: Spätestens über das Geschäftsjahr 2025 müssen Unternehmen und Einrichtungen – und das gilt auch für Krankenhäuser – mit mehr als 250 Mitarbeitenden (und 20 Millionen Euro Bilanzsumme oder 40 Millionen Euro Umsatz) Nachhaltigkeitsberichte vorlegen.

Darin müssen sie Rechenschaft über ihren Treibhausgasausstoß und ihre Strategien, wie sie ihn verringern wollen, ablegen. Die Weichen dafür hat die Europäische Kommission im November 2022 – etwas unbemerkt von der Öffentlichkeit – mit der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) gestellt. Im Zuge dessen wird die Beschaffung ein starker Hebel für Krankenhäuser sein, die ihre Nachhaltigkeitsperformance verbessern wollen.

Grün einkaufen im Krankenhaus

Klinikeinkäufer, die ihre Ausschreibungen entsprechend gestalten, sind noch in der Minderheit. Seit zwei Jahren gibt es allerdings das Netzwerk ZUKE green – ZUKE steht für Zukunft Krankenhauseinkauf – in dem sie sich untereinander und mit Nachhaltigkeitsmanagern austauschen. Auf seiner Website stellt ZUKE green grüne Lösungen für Krankenhäuser vor, darunter das chirurgische Saug- und Spülsystem BlueLavage des baden-württembergischen Unternehmens mahe medical. „Das System wird benötigt, um beispielsweise den Markraum von Knochen zu reinigen, wenn eine Prothese eingesetzt werden soll“, erklärt Privatdozent Dr. Alexander Wegner, Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Handchirurgie am Klinikum Wolfsburg.

Anders als andere Systeme dieser Art ist BlueLavage nicht batteriebetrieben. In seinem Inneren steckt eine Drive Unit, die nach Gebrauch entnommen und wieder aufgeladen werden kann. So landet nur das Plastikgehäuse im Müll – da es direkten Kontakt mit dem Patienten hat, kann es nicht wiederverwendet werden. „Wir haben uns für dieses System entschieden, weil unser Krankenhaus versucht, seine Abfälle zu reduzieren“, sagt Wegner. „Jährlich werden in deutschen Krankenhäusern zwei Millionen Batterien weggeworfen“, erläutert mahe medical-Geschäftsführer Markus Heckmann. „Diesem Wahnsinn wollten wir etwas entgegensetzen.“ Andere Systeme würden pro Einsatz bis zu acht Batterien benötigen. „Die Drive Unit kann bis zu 150-mal wiederaufgeladen werden, damit kann sie 1200 Batterien ersetzen“, rechnet Heckmann vor.

Treibhausgas-Rechner für Krankenhäuser

Die CO2-Bilanz von Medizinprodukten macht fast ein Viertel der Gesamtbilanz eines Krankenhauses aus. Am Heidelberger Institut für Global Health, einem Forschungsinstitut an der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg, entwickeln Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Treibhausgas-Rechner für Krankenhäuser. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf Treibhausgasemissionen aus Lieferketten.

„In einer ersten Auswertung haben wir festgestellt, dass am Universitätsklinikum Heidelberg im Jahr 2019 rund 228.000 Tonnen CO2-Äquivalente ausgestoßen wurden“, erläutert die Medizinerin Claudia Quitmann, die das im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative geförderte Projekt „Klimaschutz in Kliniken durch Optimierung der Lieferketten“ (KliOL) koordiniert: „Ein Viertel davon sind energiebezogene Emissionen, das heißt, sie entfallen vor allem auf den eingekauften Strom oder Fernwärme. Die anderen drei Viertel entstehen durch vor- und nachgelagerte Prozesse. Der Einkauf von Medikamenten macht 13 Prozent des Gesamtausstoßes aus, Medizinprodukte verursachen 25 Prozent.“ Die hohe Treibhausgas-Intensität von Arzneimitteln und Medizinprodukten überrascht oft, berichtet Quitmann. Die meisten hielten Energie, Abfall und Mobilität für die Hauptemissionsquellen.

Derzeit erprobt das KliOL-Team den Treibhausgas-Rechner am Uniklinikum und am Krankenhaus Salem in Heidelberg sowie am Uniklinikum Tübingen. Danach soll er Krankenhäusern deutschlandweit zur Verfügung stehen. Er berechnet den CO2-Fußabdruck auf Basis der Ausgaben und Verbräuche des Krankenhauses. Diesem Vorgehen liegen u. a. Daten des Statistischen Bundesamtes zugrunde, das Finanzströmen in bestimmten Wirtschaftsbereichen die entsprechenden Treibhausgasemissionen zugeordnet hat. „Damit erreicht man zwar nur eine grobe Näherung“, sagt Claudia Quitmann, „aber bei der Vielzahl von Medizinprodukten, die in einem Krankenhaus zum Einsatz kommen, ist es unmöglich, für jedes einzelne zu erfassen, wie viel Gramm Aluminium oder Polyethylenterephthalat (PET) darin steckt und das dann auf die Gesamtheit aller Medizinprodukte hochzurechnen.“

Nachhaltigkeit meint mehr als klimafreundliche Materialien

Laut Quitmann habe es einen Grund, dass die Lieferkettenoptimierung bei Medizinprodukten in Krankenhäusern noch kein großes Thema ist: „Die Umstellung auf eine pflanzenbasierte Speiseversorgung ist überschaubar und relativ leicht umzusetzen. Die Umstellung auf nachhaltige Medizinprodukte ist sehr viel komplexer.“ Dafür müssten alle Beteiligten an einen Tisch: die Einkäufer, die die Preise im Blick behalten, und die Anwender, die mit den Produkten zufrieden sein müssen sowie die Hersteller und Entsorger. Hygienevorschriften müssen ebenso beachtet werden wie die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich Einweg- oder Mehrwegprodukte besser eignen oder kostengünstiger sind. Die Produkte müssen über ihren ganzen Lebensweg hinweg bis hin zu seiner Entsorgung betrachtet werden.

„Der digitale Produktpass würde dabei sehr helfen“, sagt Claudia Quitmann. „Andererseits ist eine Medizinprodukte-Bilanz nicht gerade trivial.“ Um zu ermitteln, wie viel CO2 in einem Produkt stecke, müsse man berücksichtigen, wie viel Energie in seine Herstellung und Transportlogistik geflossen ist, wie langlebig oder ob es reparierbar ist und ob es am Ende recycelt werden kann.

In Skandinavien ist es schon seit längerem gang und gäbe, dass Krankenhäuser Nachhaltigkeitsaspekte bei den Medizinprodukte-Herstellern abfragen. In einem Interview mit der Fachzeitschrift medizin&technik berichtet Marianne Gries, Environmental Sustainability Director bei Johnson & Johnson für die Region EMEA, von einer finnischen Ausschreibung, in der unter anderem abgefragt wurde, ob sich in den Verpackungen PVC befindet, ob das Unternehmen umweltschädliche, hormonähnliche oder gefährliche Substanzen verwendet und wie in den Produktionsstätten mit Abwässern verfahren wird.

Der National Health Service (NHS) in Großbritannien schlägt einen ähnlichen Weg ein. Weil das britische Gesundheitssystem bis 2045 das weltweit erste sein soll, das klimaneutral ist, macht der NHS den Herstellern von Medizinprodukten entsprechende Vorgaben. Ab 2030 dürfen Krankenhäuser nur noch Medizinprodukte kaufen, deren Hersteller eine Treibhausgasbilanz sowie einen Reduktionsplan vorlegen.

Recyclingfähigkeit in der Medizin von Anfang an mitdenken

Die Hersteller seien sich bewusst, dass sie sich in Sachen Klimaschutz künftig stärker aufstellen müssen, berichtet Claudia Quitmann. Ein Beispiel seien recycelbare Klammernahtgeräte von Johnson & Johnson Medical – klassische Einweginstrumente, die in der Regel thermisch verwertet werden. Am Asklepios Klinikum Harburg werden sie mithilfe eines digital unterstützten Rücknahmesystems gesammelt und anschließend recycelt.

Das Klinikum spart auf diese Weise jährlich 2.500 Kilogramm CO2 ein. Damit noch mehr solcher Beispiele Schule machen, braucht es gesetzliche Vorgaben, anderenfalls besteht die Gefahr, dass Investitionen in Nachhaltigkeit und Klimaschutz den Herstellern zum Wettbewerbsnachteil gereichen. Ebenso erforderlich sei ein Zusammenschluss der unterschiedlichen Firmen – nicht nur der Hersteller, sondern auch der Entsorger. „Denn die Entsorger müssen die Medizinprodukte in einer Form bekommen, in der sie sie wiederverwerten können“, sagt Claudia Quitmann. Heißt, dass die Hersteller schon bei der Entwicklung neuer Medizinprodukte ihre Recyclingfähigkeit mitdenken sollten.

Quellen

Medizinprodukte oder Bauteile wie medizinische Displays, Lichtquellen in Medizinprodukten etc. sind bisher von bestehender Ökodesign-Richtlinie ausgenommen. (Foto: Goodboy Picture Company, iStock)
Medizinprodukte oder Bauteile wie medizinische Displays, Lichtquellen in Medizinprodukten etc. sind bisher von bestehender Ökodesign-Richtlinie ausgenommen. (Foto: Goodboy Picture Company, iStock)